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Und so gibt es für mich auch keinen Gegensatz zwischen Collagen, in denen er Fundstücke zu einer neuen, zu seiner Wirklichkeit anhäuft, und jenen Bildern einzelner Objekte, Gegenständen des Alltags, die, wie in seinen Tirolbildern, einen klobigen Holzstuhl zur Ikone des Alpenländischen machen. Denn letztlich entstehen Leitners Bilder im Kopf, bevor sie wirklich werden. Und wenn Leitner nun eine fotografische Reise nach Tirol angetreten hat, scheint er sich gleichsam die Heimat wieder „einzutreiben“.
Unter seinem Blick wird uns das Nahe fremd und das Vertraute fern, was real erscheint unwirklich und was irreal anmutet verwandelt sich in Wirklichkeit. Er stellt uns „seine Tiroler Welt“ in ihrer für ihn absurden Beschaffenheit vor, faszinierende Bilder eines umfassenden leitnerschen Theatrum Mundi. Da ist das Bild einer verblichenen, schäbig gewordenen Grenzmarkierung der einst mythologisch aufgeladenen und (aktuell erneut) politisch brisanten Brennergrenze, da sind absurde, das Land durchziehende Zäune, die das Private von einer als gefährlich wahrgenommenen und fremd gewordenen Welt abschotten; da sind Leitners Blicke aus Hotelräumen auf eine Landschaft, die ihr eigenes Klischee zu übertreffen scheint; da sind vor sich hin rostende US-Straßenschlitten, die vom Ende des amerikanischen Traums künden – alles Spiegelbilder seiner obsessiven und surrealen Weltsicht, visuelle Skizzen, Fragmente, Imaginationen aus dem Reise- tagebuch eines besessenen Bildermachers, mit denen er den Verwandlungen der Welt und seiner selbst auf der Spur ist. Besser kann man die Ironie und den Wahnsinn des Alltags nicht darstellen.
Wenn er zwei Muslime, eine Frau mit Kopftuch und einen Mann mit Kinderwagen, vor der Kirche in Telfs präsentiert, wirkt das wie eine Paraphrase bekannter Tirolmotive von Alfons Walde. Auf den ersten Blick wähnen wir uns in einem bosnischen Dorf. In einer Frühstückspension in Galtür interessiert er sich für einen auf dem Tisch stehenden Zuckerstreuer. Hier werden Bezüge Leitners zu amerikanischen Fotografen wie William Eggleston oder Stephen Shore deutlich. Im Seefelder Hotel Berghof, einer Landmark alpiner Bauhausarchitektur, scheint der Blick des Reisenden auf dem edlen Interieur zu ruhen, bevor er sich nochmals durch das Panoramafenster der Welt draußen zuwendet, kein Blick zurück im Zorn, vielmehr voller Empathie. Die Tiroler Bilder fügen sich in ein Gesamtwerk von unglaublicher und ständig wachsender Vielfalt. So überbordend und unüberschaubar es auch inzwischen sein mag, von einer Fülle, der Leitner durch Systematisierungen, Gruppierungen und Themen vergeblich Herr zu werden sucht, so sehr ist seine Arbeit gleichwohl getragen von einer konsequenten künstlerischen Haltung, einer Arbeits- und Denkweise, die er selbst in mehreren Sätzen formuliert hat. Einige zentrale programmatische Bemerkungen Leitners seien hier zitiert und interpretiert. Voran ein Kernsatz Leitners zu seiner Lebens- und Arbeitsgeschwindigkeit, er lautet etwa: „Die beste Geschwindigkeit des Fotografen ist die Schrittgeschwindigkeit.“ Und Leitner ist der Flaneur unter den Fotografen, jede Hast ist ihm fremd, er lässt sich treiben, begibt sich auf die Suche nach Motiven. In Tirol legte er 671 Kilometer mit einem Leihwagen zurück, um vor Ort „Fotorundgänge“, wie er selbst sagt, zu machen. Leitner „ergeht“ sich seine Welt, stunden- und tagelang, wo immer er auch sein mag. Seine Arbeitsweise basiert auf Langsamkeit und Genauigkeit. Er nimmt sich Zeit, ist einer, der dem Zufall auf der Spur ist. In einem Interview zitierte er einmal Hartmut Böhme: „Der Flaneur sucht nicht den schnellsten Weg von hier nach dort, sondern bevorzugt die Odysseen des Zufalls.“ [ref]Hartmut Böhme, „Schildkröten spazieren führen“, in: Neue Zürcher Zeitung, 19. Mai 2007, online: http://www.nzz.ch/articleF2LNV-1.361104. Dass ihm dabei kommerzielle Einschränkungen beziehungsweise Aufträge, Zwecke und Zeitrahmen völlig fremd sind, versteht sich von selbst, ebenso wenig interessiert ihn die Schnelligkeit und Beliebigkeit der Digitalfotografie. Er glaubt an die Einmaligkeit eines Bildes, seine Welt ist bis heute analog. Er entscheidet vor und bei der Aufnahme, wählt seine Bilder beim Fotografieren sorgfältig aus, nicht danach. Entscheidend ist der richtige Moment, das richtige Motiv zur richtigen Zeit; und Leitner ist auf der Lauer bei seinen Exkursionen, sein Timing stimmt, denn ein weiterer Kernsatz Leitners lautet: „Nachher ist nicht wie vorher.“
Fotografieren bedeutet für Leitner „eine Einstellung machen“. Das heißt bei Leitner aber auch, eine Einstellung, eine Haltung haben. Leitner sagt ferner: „Alles bei mir ist eins“. Seine Welt ist ein schillerndes Kaleidoskop unterschiedlichster Eindrücke und Einfälle, er liebt Zitate, Objekte, Bilder in oft überraschenden, ironischen Zusammenhängen, er will sie vereinen, zu einem stimmigen, in sich geschlossenen Kosmos fügen; Kunst und Leben sind für Leitner eins, und wenn das Leben weitergeht, dann in seinen Bildern. (Gerald Matt)
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Paul Albert Leitner's journey to Tyrol or Tyrol: Reality Check or On the Distance of Proximity. Contribution to the book project "ÖsterreichBilder" of the Fotohof.
And so, for me, there is no contradiction between collages, in which he piles up found objects to form a new, his reality, and those images of individual objects, everyday objects, which, as in his Tyrol pictures, turn a clumsy wooden chair into an icon of the Alpine. Because ultimately Leitner's images are created in the mind before they become real. And when Leitner now embarks on a photographic journey to Tyrol, he seems, as it were, to be "driving home" to himself again.
Under his gaze, what is near becomes strange and what is familiar becomes distant, what seems real becomes unreal and what seems unreal is transformed into reality. He presents us with "his Tyrolean world" in its absurdity, fascinating images of a comprehensive leitnerian Theatrum Mundi. There is the image of a faded, shabby border marker of the once mythologically charged and (currently once again) politically explosive Brenner border; there are absurd fences criss-crossing the country, sealing off the private sphere from a world that is perceived as dangerous and has become alien; there are Leitner's views from hotel rooms of a landscape that seems to surpass its own cliché; there are rusting US road sleds that announce the end of the American dream - all reflections of his obsessive and surreal view of the world, visual sketches, fragments, imaginings from the travel diary of an obsessive image-maker, with which he tracks down the transformations of the world and of himself. There is no better way to portray the irony and madness of everyday life.
When he presents two Muslims, a woman with a headscarf and a man with a pram, in front of the church in Telfs, it seems like a paraphrase of well-known Tyrolean motifs by Alfons Walde. At first glance, we imagine ourselves in a Bosnian village. In a bed and breakfast in Galtür, he is interested in a sugar shaker standing on the table. Here Leitner's references to American photographers such as William Eggleston or Stephen Shore become clear. In the Berghof Hotel in Seefeld, a landmark of Alpine Bauhaus architecture, the traveler’s gaze seems to rest on the noble interior before turning once more through the panorama window to the world outside, not a look back in anger, but rather full of empathy. The Tyrolean pictures fit into a body of work of unbelievable and ever-growing diversity. As overflowing and unmanageable as it may be in the meantime, an abundance that Leitner tries in vain to master through systematization, groupings and themes, his work is nevertheless borne by a consistent artistic attitude, a way of working and thinking that he himself has formulated in several sentences. Some of Leitner's central programmatic remarks are quoted and inter- preted here. First of all, a core sentence by Leitner on the speed of his life and work: "The best speed of the photographer is walking speed. And Leitner is the flâneur among photographers, any haste is alien to him, he lets himself drift, goes in search of motifs. In Tyrol, he covered 671 kilometers in a rented car in order to make "photo tours", as he himself says, on location. Leitner "walks" his world, for hours and days, wherever he may be. His way of working is based on slowness and accuracy. He takes his time, is one who is on the trail of chance. In an interview, he once quoted Hartmut Böhme: "The flâneur does not look for the fastest way from here to there, but prefers the odysseys of chance."[ref]Hartmut Böhme, "Schildkröten spazieren führen", in: Neue Zürcher Zeitung, 19 May 2007, online: http://www.nzz.ch/articleF2LNV-1.361104. [/ref]It goes without saying that commercial restrictions or commissions, purposes and time frames are completely alien to him, just as he is not interested in the speed and arbitrariness of digital photography. He believes in the uniqueness of an image; his world is still analogue. He decides before and during the shot, carefully selects his pictures while taking them, not afterwards. What matters is the right moment, the right motif at the right time; and Leitner is on the lookout during his excursions, his timing is right, because another of Leitner's core sentences is: "After is not like before."
For Leitner, photography means "taking a shot". But for Leitner that also means having an attitude, a stance. Leitner further says: "Everything with me is one". His world is a dazzling kaleidoscope of the most diverse impressions and ideas, he loves quotations, objects, images in often surprising, ironic contexts, he wants to unite them, to join them into a coherent, self-contained cosmos; art and life are one for Leitner, and if life goes on, then in his pictures.
Biografie Paul Albert Leitner (*1957 in Jenbach, Tirol) ist freischaffender Künstler. Er lebt und arbeitet in Tirol und Wien.
Künstlerische Arbeitsweise
Paul Albert Leitner absolvierte eine fotografische Lehrausbildung über die er sich in weiterer Folge autodidaktisch der freischaffenden künstlerischen Tätigkeit zuwandte. Seit 1986 arbeitet er unermüdlich an verschiedenen Themen dokumentarisch, erzählerisch, surreal, subjektiv und assoziativ. Sein privates, analoges Foto- und Negativarchiv wächst stetig. Dabei nutzt und kultiviert Leitner das Zeitungslesen als ein „System von Abschweifungen” und das Sammeln von Zeitungsausschnitten dient ihm zu Selbsterkundungen in Bild und Schrift. Seine Bildmotivsammeltätigkeit geht oft über in das Sammeln scheinbar nutzloser Fundstücke als „objets d'art“. Diese Objekte finden in Rauminstallationen eine neue – bizarre wie exzentrische – Bedeutungsebene. In den letzten Jahren entwickelte er ein starkes Interesse an Collagen. Große Inspirationsquellen sind ihm Reisen, fotografische Erkundungen fremder, neuer Orte und derer oft trashig – tristen Aufgeladenheit. Neben Einzelausstellungen u.a. in Innsbruck, Graz, Salzburg, Wien, Frankfurt/Main, Bremen, Bozen, Turin, Dakar, Andelsbuch, Warschau und Helsinki kann Leitner zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland nachweisen.
„Ich bin nach zwei bis drei Stunden (manchmal auch nach acht Stunden!) analoger Lese- und Bildarchivierungsarbeit physisch völlig erschöpft. Augen und Arme schmerzen. Ich glaube aber, daß diese Methode der Entschleunigung noch mehr Wachheit und Qualität bietet, als andere Ordnungssysteme. Ich besitze keinen PC und verweigere Vieles. Mein Narzissmus entwickelt sonderbare Züge. Die Kunst stellt für mich eines der größten Abenteuer dar. Ich denke, ich habe die Sprache der Kunst verstanden. Ich weiß über das Phänomen „Wikikomori“ in Japan bescheid. Das Geldverdienen ist in unserer westlichen Gesellschaft tatsächlich die zentrale Triebfeder. Eine Realität ist, dass wir seit 2008 eine Wirtschaftskrise haben. Aber weltweit fanden in der Vergangenheit immer Krisen statt. Ich weiß, dass was schnell glänzt auch schnell verblasst. Ich lese, das Papst Franziskus erklärte, dass eine nur den Marktkräften verpflichtende Wirtschaft, die keine Schranken hat, tötet. Ich lese, Grundlage der Marktwirtschaft sind Kräfte wie Leistung, Eigentum, Wettbewerb. Ich lese, dass „Shiki“ in Japan „Vier Jahreszeiten“ bedeutet.“ (Paul Albert Leitner, 1. März 2015)
„Alles bei mir ist eins. Ich finde die Inspiration überall. Ich bin, denke ich, in der Tat Inspirationskünstler.” (Paul Albert Leitner, 27. August 2014)
Ausgewählte Ausstellungen
2015 Das Stillleben in der zeitgenössischen Photographie, Museum Orth, Orth an der Donau
2014 Paul Albert Leitner in UK, Photographs: London|Liverpool|Manchester Galerie Rhomberg
2013 Innsbruck International, Biennale für zeitgenössische Kunst, Festival of Arts, Alte Seifenfabrik, Innsbruck
2010/2011 Serbia Frequently Asked Questions, austrian cultural forum, New York
1990 Weltverwirrung, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt am Main
1986 Fotografische Arbeiten, Galerie Fotohof, Salzburg
Ausgewählte Publikationen
0 – 24. Signs and Advertisements, Fotohof edition 2008, Vol. 102
Porträts von Künstlern und anderen Personen. Selbstporträts und Natur,
Verlag für Moderne Kunst, 2007
Kunst und Leben. Ein Roman – Ein fotografischer Zyklus in 20 Kapiteln,
Fotohof edition 1999, Vol. 15